Scrum Master ist eine Führungsrolle, aber das Team entscheidet.
Nach traditionellem Führungsverständnis ist diese Aussage ein Widerspruch, da dort die Führungskraft entscheidet. Aber dieser Widerspruch macht die Rolle des Scrum Masters so zukunftsweisend. Unternehmen streben nach mehr Agilität. Der Scrum Master verkörpert Agilität. Agilität bedeutet, auf Veränderungen zu reagieren. Reagieren bedeutet zu entscheiden. Damit Entscheidungen auch schnell umgesetzt werden, müssen sie vom Team getroffen werden.
Die Entscheidungen in die Hände des Teams zu legen, macht den Scrum Master zu einer modernen Führungskraft.
Scrum Master übernehmen in dieser Art der Führung nicht nur eine große Verantwortung, sondern erbringen auch einen großen Wert für das Unternehmen.
Dieser Wert lässt sich in Zahlen ausdrücken:
Nehmen wir an, dass ein Teammitglied das Unternehmen etwa 100 Euro pro Stunde kostet. Besteht das Team aus zehn Mitgliedern, dann kostet jede Stunde 1 000 Euro, welche das Team in einem Meeting verbringt.
Nun, wenn die Planung eines zweiwöchigen Sprints acht Stunden dauert, statt den anvisierten vier, dann kostet diese das Unternehmen weitere 4 000 Euro. Wenn das Resultat des Daily Scrums nur ein weiterer einstündiger Termin zur Abstimmung mit der Projektleitung ist, anstatt dass die Entwickler zusammenarbeiten, dann kostet dies das Unternehmen zusätzliche 1 000 Euro. Wenn das Sprint Review zwei Stunden dauert, anstatt einer, da sich die Diskussionen endlos im Kreis drehen, dann kostet dies das Unternehmen weitere 1 000 Euro.
Fakt ist: Das Unternehmen bezahlt für jede Stunde ineffektiver Zusammenarbeit 1 000 Euro.
Zusammenarbeit ist immer dann als ineffektiv anzusehen, wenn keine Entscheidung getroffen wird, die das Team vom Reden ins Handeln kommen lässt. Der Inbegriff eines ineffektiven Meetings beschreibt der Ausspruch: „Es wurde zwar schon alles gesagt, aber nicht von jedem.“ Dies hätte ein versierter Scrum Master mit einem einfachen Daumen-Voting erheblich abgekürzt.
Worauf will ich damit hinaus?
Ersparst du deinem Team nur vier Stunden ineffektive Meetingzeit pro Monat, dann sparst du deinem Unternehmen 48 000 Euro im Jahr ein!
Ich kann fast hören, wie du dir jetzt denkst, warum genau vier Stunden? Aus meiner langjährigen Erfahrung als Scrum Master sind vier Stunden realistisch und gleichzeitig sehr konservativ geschätzt. Und vier Stunden decken sich auch mit der Aussage eines „Business Cases für Scrum Master“, welche von erfahrenen Scrum Experten kürzlich berechnet wurde.
Was bedeutet das für dich? Willst du deinem Unternehmen 48 000 Euro einsparen, dann hilf deinem Team zu entscheiden. Darin besteht der Wert deiner Arbeit für dein Unternehmen. Natürlich ist es nicht damit getan, einfach nur Daumen-Votings durchzuführen, sondern du musst die Hindernisse beseitigen, die Teams davon abhalten zu entscheiden.
Welche das sind und wie du sie entfernst, erfährst du jetzt:
Hindernis 1: Muss eine Entscheidung getroffen werden?
Nicht alle Meetings enden mit einer Entscheidung.
Status-Updates, Refinement-Meetings, Discovery Workshops oder All-Hands-Meetings benötigen keine Entscheidung, um ihren Zweck zu erfüllen.
Bei den Meetings in Scrum sollte das nicht so sein! Sie enden, wenn eine Entscheidung getroffen wurde.
Gehen wir die Scrum Events der Reihe nach durch:
- Sprint Planning: Endet, wenn das Team sich auf ein Sprint-Ziel festgelegt hat.
- Daily Scrum: Endet, wenn entschieden wurde, woran die Entwickler heute arbeiten werden, um dem Sprint-Ziel einen Schritt näherzukommen.
- Sprint Review: Endet, wenn das Scrum Team und die Stakeholder entschieden haben, was in Zukunft die höchste Priorität hat.
- Sprint Retrospektive: Endet, wenn sich das Scrum Team für einen Verbesserungsvorschlag entschieden hat, den es im nächsten Sprint weiterverfolgen will.
Nicht zu wissen, ob der Termin mit einer Entscheidung enden soll oder nicht, stellt ein Hindernis dar. Dieses Hindernis kostet viel unnötige Zeit. Wenn du deinem Team Zeit einsparen willst, dann kläre mit ihm vor dem Termin, was der Zweck des Meetings ist und ob eine Entscheidung nötig ist. Diese Klarheit hilft deinem Team, fokussiert auf eine Entscheidung hinzuarbeiten.
Zusätzlicher Tipp aus der Praxis: Wenn du dir unsicher bist, ob in einem Meeting eine Entscheidung getroffen werden muss oder nicht, dann achte darauf, ob die Teilnehmer das Wort „Ich“ oder „Wir“ verwenden, wenn sie die Themen besprechen. Die Verwendung des Wortes „Wir“ gibt dir einen Hinweis darauf, dass es sich um ein Meeting handelt, welches in einer Entscheidung gipfeln sollte.
Hindernis 2: Wer darf die Entscheidung treffen?
Sobald feststeht, ob das Treffen mit einer Entscheidung enden soll, ist die Unsicherheit im Team darüber, wer die Entscheidung trifft, ein zusätzliches Problem auf dem Weg zur Entscheidung.
Du behebst dieses Hindernis, indem du deinem Team die vier Level einer Entscheidung erklärst (ich verwende hierzu eine vereinfachte Variante der Delegationslevel von Management 3.0).
- Level 1 – Eine direktive Entscheidung: Dies ist eine Entscheidung, die von der Unternehmensleitung, dem Teamleiter oder dem Management getroffen wird. Dabei haben Teammitglieder kein Mitspracherecht. Sie müssen sich fügen.
- Level 2 – Eine beratende Entscheidung: Dies ist eine Entscheidung, bei der die Unternehmensleitung eine Entscheidung trifft, aber zunächst die Ideen und Vorschläge der Teammitglieder einholt.
- Level 3 – Eine partizipative Entscheidung: Eine Entscheidung, bei der die Teammitglieder aufgefordert werden, Empfehlungen und Aktionspläne zu erstellen, für deren Umsetzung aber die Zustimmung der Unternehmensleitung noch benötigt wird.
- Level 4 – Eine delegierte Entscheidung: Diese Entscheidung treffen die Teammitglieder, ohne eine weitere Genehmigung einholen zu müssen.
Nicht zu wissen, wer die Befugnis hat, eine Entscheidung zu treffen, kostet das Team viel Zeit in unnötigen Diskussionen. Du sparst deinem Team diese Zeit ein, wenn du mit ihm festhältst, wer in welcher Situation entscheidet.
Hindernis 3: Wie soll die Entscheidung getroffen werden?
Nachdem feststeht, wer die Entscheidungen trifft, bleibt noch die Frage: „Wie entscheiden wir?“
Jedem im Team sollte zu Beginn des Meetings bewusst sein, wie entschieden wird. Dabei gibt es vier Regeln, wie entschieden werden kann:
- Einzelentscheidung: Eine Person im Team entscheidet für alle.
- Konsensentscheidung: Wenn alle Mitglieder im Team zustimmen, ist die Entscheidung getroffen.
- Mehrheitsentscheidung: Wenn die Mehrheit dem Vorschlag zustimmt, ist die Entscheidung getroffen.
- Konsententscheidung: Die Entscheidung ist getroffen, wenn es keine Einwände mehr zum Vorschlag gibt.
Mehr zu den vier Regeln kannst du hier finden. Möchtest du die Entscheidungsregel umsetzen, dann gibt es hierfür eine Reihe von Techniken: Münzwurf, Roman-Voting, Fist-of-five und Gradient der Zustimmung. Falls du dich bisher wenig mit Entscheidungen und Techniken zur Entscheidungsfindung beschäftigt hast, lege ich dir mein „Professional Scrum Facilitation Skills“-Training ans Herz. Das ist der Einstiegskurs in die Moderation der Scrum Events – speziell für Scrum Master.
Der effiziente Einsatz der Entscheidungsregeln und Techniken zum Entscheiden spart deinem Team eine Menge Zeit ein.
Hindernis 4: Behindert ein Konflikt die Entscheidung?
Stell dir vor:
Das Team kommt zur Sprint Retrospektive zusammen. Als Scrum Master stellst du das Thema der Retrospektive vor. Nachdem du fertig bist, schießt ein Mitglied des Teams mit seiner Lösung vor und erklärt der ganzen Gruppe, dass er die richtige Lösung hat, und beginnt, diese mit Leidenschaft zu beschreiben. Dies veranlasst ein anderes Teammitglied, einen gegenteiligen Vorschlag zu machen, den er dann dem Team verkaufen will. Die beiden Personen sind völlig darin vertieft, für ihre Ideen zu werben, und nehmen um sich herum nichts mehr wahr. Die anderen Mitglieder des Teams werden genötigt, Stellung oder Partei zu ergreifen. Dann werden die Aussagen emotionaler, und die Retrospektive verkommt zu einem Wettbewerb, wer recht hat und wer unrecht.
Diese Situation soll dir veranschaulichen, dass der Weg von einer Gruppenentscheidung hin zu einem Konflikt häufig nur ein kurzer ist. Du stimmst mir bestimmt zu, dass ein Konflikt im Team der Inbegriff eines ineffektiven Meetings ist.
Und wenn es erst einmal Vorwürfe und böse Worte hagelt, ist es fast unausweichlich, dass das Team zerbricht. Damit es nicht so weit kommt, investiere etwas Zeit darin, deinem Team die unterschiedlichen Stufen eines Konflikts näherzubringen. Dies wird dir langfristig Zeit einsparen. Denn je besser dein Team den Konflikt versteht, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Teammitglieder erkennen, dass sie sich auf einen Konflikt zubewegen und diesen noch deeskalieren können.
Eine vereinfachte Version des „neun Stufen in den Abgrund eines Konflikts“-Modells nach Friedrich Glasl ist:
- Stufe 1: Eine „Win-win“-Lösung ist noch für beide Parteien möglich.
- Stufe 2: Nur noch eine „Win-lose“-Lösung ist möglich.
- Stufe 3: Für beide Parteien ist nur noch eine „Lose-lose“-Lösung möglich.
Nach Marc Kaufmann, meinem Co-Trainer im „Professional Scrum Master II“-Training, stellen die Übergänge dieser Stufen jeweils einen Verlust dar. Nach dem Übergang von Stufe 1 auf 2 geht die gegenseitige Wertschätzung verloren. Dann ist es nicht mehr möglich, im Meeting eine Entscheidung zu treffen, hinter der wirklich alle im Team stehen.
Kommst du jemals in diese Situation, dann ist der einzige Rat, den ich dir geben kann, setzte alles daran die Konfliktparteien so schnell wie möglich zu trennen und hole dir im Anschluss Unterstützung aus der HR-Abteilung.
Hindernis 5: Wird die Entscheidung blockiert?
Konsensentscheidungen werden manchmal blockiert.
Du erkennst es an Situationen wie:
- Es gibt ein Problem mit der vorgeschlagenen Lösung.
- Der Vorschlag holt nicht alle ab.
- Ein Teammitglied hält sich absichtlich zurück, um dann in letzter Minute seine Einwände vorzubringen.
Dass eine vorgeschlagene Lösung von Teammitgliedern blockiert wird, ist erst mal etwas Gutes. Denn es spart dem Team langfristig Zeit ein. Nichts kostet mehr Zeit, als Stunden in die Erarbeitung eines Vorschlags zu stecken, der dann aber nicht umgesetzt wird, da die Einwände von Teammitgliedern nicht berücksichtigt wurden.
Um deinem Team langfristig Zeit einzusparen, solltest du ihm helfen, die Einwände zu einem Vorschlag frühzeitig sichtbar zu machen.
Hierbei kann dir die „Gradient der Zustimmung“-Methode von Sam Kaner helfen:
Bitte die Teammitglieder, die Zustimmung zum vorliegenden Vorschlag auf dieser Skala zu bewerten:
- Ich bin völlig gegen den Vorschlag und habe große Probleme mit der Lösung.
- Ich habe mehrere ernsthafte Vorbehalte gegenüber der vorgeschlagenen Lösung.
- Ich habe ein oder zwei Vorbehalte gegen die vorgeschlagene Lösung.
- Ich kann mit dem Vorschlag leben.
- Ich stimme dem Vorschlag völlig zu.
Nachdem jedes Teammitglied seine Stimme abgegeben hat, frage dein Team:
- Warum hast du so gewählt?
- Was benötigst du, damit du dem Vorschlag eine Vier geben würdest? (Ab vier sprechen wir von einem Konsens.)
Die Antworten auf die zweite Frage helfen dem Team, den Vorschlag so zu verbessern, dass alle zustimmen können. Ein Vorschlag, dem alle zustimmen, spart deinem Team langfristig Zeit ein.
Nun kennst du die fünf Hindernisse, die Scrum Teams eine Menge Zeit kosten und zu ineffektiver Zusammenarbeit führen.
Bei der Beseitigung dieser Hindernisse gehe ich in drei Schritten vor:
- Schritt 1: Beobachte ich in einem Meeting eines der Hindernisse, dann mache ich ein kurzes Facilitator-Time-out. In dieser erkläre ich dem Team die Situation und wir erarbeiten mögliche Handlungsoptionen. Der Inhalt dieses Artikels liefert dir die nötigen Informationen.
- Schritt 2: Im Anschluss unterstütze ich das Team, sich für eine Handlungsoption zu entscheiden.
- Schritt 3: Sollte diese Situation häufiger auftreten, dann ist es hilfreich, das zukünftige Vorgehen in den Working-Agreements festzuhalten. Mehr über Working-Agreements kannst du hier lesen. Sollte dazu im Meeting keine Zeit sein, dann nutze dazu die Sprint Retrospektive.