Was am 09. August 2007 passiert ist, hatte niemand vorhergesehen:
Dank immer ausgefeilterer Finanzmodelle entwickelte sich ein Gefühl der Unfehlbarkeit. Investmentbanker gingen davon aus, in einer zwar risikoreichen, aber berechenbaren Welt zu leben. Umso größer war die Überraschung, als das Finanzsystem kollabierte und der Bankenriese Lehman Brothers bankrottging.
Plötzlich befand sich die Welt mitten in einer Wirtschaftskrise.
Natürlich ist dieses Beispiel sehr extrem. Gleichwohl nur eines unter vielen. Die Coronakrise ist ein weiteres dieser Art. Diese Beispiele führen uns vor Augen, dass es in unserer Welt nicht immer vorhersehbar abläuft. Was in der Zukunft passieren wird, lässt sich nicht berechnen. Es gibt häufig keine einfache Lösung und kein optimales Vorgehen mehr.
Wir bewegen uns im Raum des Möglichen und nicht mehr im Raum des Wahrscheinlichen.
Diese Realität macht auch vor deinem Scrum Team nicht halt.
Wie führst du es durch dieser Situationen?
Öffne dich für unvorhersehbare Situationen
Führung in unvorhersehbaren Situationen ist für die meisten von uns Neuland.
Woran erkennst du, ob eine Situation einen unberechenbaren Ausgang hat oder nicht?
Hier sind zwei Fragen, die dir helfen, die Situation zu bewerten:
- Wie viel Uneinigkeit über das (Projekt-)Ziel und den Weg zu dessen Erreichung gibt es?
- Sind das benötigte Wissen und die Fähigkeiten, das Problem zu lösen, an einem Ort vereint? Mit „Ort“ meine ich eine Person, ein Team oder die Organisation.
Für die Beantwortung der Fragen hat sich eine Skala von eins bis fünf bewährt. Bei der ersten Frage bedeutet eine Eins vollkommene Einigkeit und eine Fünf völlige Uneinigkeit über das Projektziel innerhalb des Teams. Bei der zweiten Skala steigt der Wert, je zerstreuter das Wissen und die Fähigkeiten sind.
Die Zahlen konkret aufgeschlüsselt:
- Das Wissen ist in einer Person des Teams gebündelt.
- Nur das Team insgesamt verfügt über das notwendige Wissen.
- Das Team allein reicht nicht mehr aus. Es wird Unterstützung von anderen Personen, Teams oder Abteilungen innerhalb des Unternehmens benötigt.
- Das Unternehmen allein reicht nicht mehr aus. Es wird sogar Wissen außerhalb der Unternehmensgrenzen benötigt.
- Es ist ungewiss, ob überhaupt jemand über das benötigte Wissen verfügt.
Die Beantwortung dieser beiden Fragen hilft dir, schnell eine Einschätzung der Situation vorzunehmen. Am besten bittest du das ganze Team, an der Einschätzung teilzunehmen. Dadurch verminderst du Fehleinschätzungen.
Drei oder mehr Punkte in beiden Bewertungen bedeutet: Das Ergebnis dieser Situation ist nicht vorherzusehen.
Ganz konkret: Wahrscheinliche Ergebnisse müssen hier nicht mehr eintreten. Öffne dich dafür, dass etwas Unwahrscheinliches eintritt: Ein Kollege verlässt das Team und dieses ist kein Team mehr, ein geplantes Feature kann doch nicht live gehen oder ein Kunde hält sich nicht an die Vereinbarung und bezahlt nicht.
Wähle eine Richtung, statt ein konkretes Ziel
Wie löst dein Scrum Team Probleme?
Die Chancen stehen gut, dass im Team nach wahrscheinlichen Ursache-Wirkungs-Beziehungen gesucht wird. Es werden Fragen beantwortet wie: Was hat das Problem verursacht? Wie unterscheidet sich der Ist-Zustand vom Soll-Zustand? Woran erkennen wir, dass das Problem behoben ist? Zuerst wird analysiert und kartiert, dann Lösungswege erarbeitet, Szenarien formuliert und schließlich die entworfenen Strategien abgewogen. Es wird versucht, den Ausgang einer Situation vorherzusehen, egal ob es sich um ein Problem, ein Projekt oder die Suche nach der Verbesserung der Sprint Retrospektiven handelt.
Wenn du dich auch für das Unvorhersehbare öffnen möchtest, widerstehe dem Drang, ein bestimmtes Resultat zu erreichen und dies als Ziel zu setzen. Zweifelsohne fördern konkrete Ziele den Fokus, diese Fokussierung kann dich allerdings blind für das Unerwartete machen.
Statt den Ausgang einer Situation zu formulieren, stelle dir stattdessen Fragen, welche Wendung die aktuelle Situation nehmen soll:
- Welche Art von Geschichten erzählen die Menschen derzeit über dieses Thema?
- Welche Art von Geschichten möchte ich auch noch in einem Jahr erzählt hören?
- Mit welchen Aktivitäten verbringen die Menschen hier die meiste Zeit?
- Welche Aktivitäten sollten sie in den nächsten drei Monaten einschränken und welche ausbauen?
Die Antworten auf diese Fragen helfen dir, eine Richtung für das weitere Vorgehen deines Teams zu formulieren, ohne bereits ein konkretes Ziel in der Zukunft so zu fixieren, dass du Unwahrscheinliches übersiehst.
Schaffe Kanäle für Feedback
Feedback gibt es, ob wir es wünschen oder nicht.
Nutzer hinterlassen Spuren, indem sie das Produkt verwenden. Kunden schreiben öffentliche Bewertungen. Vorgesetzte äußern ihre Meinung. In der Kaffeeküche oder in Slack wird über das Team getuschelt.
Wenn du den Raum für das Mögliche öffnen willst, dann nutze Feedback, um ständig zu lernen, was sich ändern könnte.
Mehr noch: Nutze nicht nur das gegebene Feedback, sondern kanalisiere es. Schaffe Feedback-Kanäle. Diese Kanäle können dann gezielt „aufgedreht“ werden, wenn der Raum für das Mögliche erweitert werden soll.
Aus Scrum Rahmenwerken kennen wir bereits zwei Feedback-Kanäle, die jeweils einmal pro Sprint aktiviert werden:
- Das Sprint Review: Dort versammeln sich die Stakeholder des Produkts mit den Mitgliedern des Scrum Teams. Sie begutachten das Inkrement, tauschen sich über den Sprint aus und diskutieren die resultierenden Änderungen am Product Backlog.
- Die Sprint Retrospektive: Hier kommt nur das Scrum Team zusammen. Es diskutiert, was im Sprint gut lief, was schlecht lief und was in Zukunft anders gemacht werden soll.
Willst du den Raum des Wahrscheinlichen verlassen und den Raum des Möglichen für dein Team öffnen, dann erweitere diese bestehenden Kanäle.
Hier einige Ideen:
- Lade Nutzer des Produkts zum Review ein.
- Verlasse für das Sprint Review das gewohnte Umfeld und führe es beim Kunden durch.
- Bitte Kollegen aus dem Vertrieb oder Marketing, von ihren Aktivitäten für das Produkt zu berichten.
- Lade gezielt Manager in die Sprint Retrospektive ein.
- Führe die Retrospektive zusammen mit anderen Teams durch, die auch am Produkt arbeiten.
Neben der Erweiterung kannst du Feedback auch öfter aufdrehen:
- Führe Retrospektiven täglich statt pro Sprint durch.
- Halte Reviews für jeden fertigen Eintrag des Product Backlogs ab, anstatt nur am Ende des Sprints.
- Trefft euch morgens, mittags und abends zum Daily Scrum, statt nur einmal am Tag.
Zum Schluss kannst du auch noch weitere Feedback-Kanäle schaffen:
- 360-Grad-Feedback: Gebt euch im Team regelmäßig Feedback zu eurer Zusammenarbeit und eurem Miteinander.
- Team-Safari: Besucht andere Teams oder Unternehmen und schaut ihnen über die Schulter, um zu sehen, wie sie arbeiten.
- Diskussionsforum: Einmal im Monat findet eine Diskussionsveranstaltung statt, an der jeder teilnehmen kann. Jeder kann Fragen oder Themen einreichen und sie mit Teammitgliedern besprechen.
- Feedback-Box: Eine physische oder digitale Box, in die Teammitglieder anonym Feedback oder Anregungen einwerfen können. In regelmäßigen Abständen wird die Box geleert und die Inhalte in der Teamretrospektive besprochen.
- Hackathon: Veranstaltet einmal im Monat einen Hackathon, an dem jeder im Unternehmen teilnehmen kann. Dort könnt ihr einen Tag lang an neuen Ideen oder Lösungsansätzen für das Produkt arbeiten. Lade dazu auch externe Fachleute ein, um einen frischen Blickwinkel und neue Impulse zu erhalten.
Deine Anleitung für die Navigation unvorhersehbarer Situationen in der Teamarbeit
Ich wage eine Prognose:
Die Situationen, denen dein Team in Zukunft ausgesetzt sein wird, werden immer weniger vorhersehbar sein. Warte deshalb nicht länger und beginne, dein Team für das Mögliche zu sensibilisieren, anstatt nur mit dem Wahrscheinlichen zu rechnen.
Deine Anleitung dazu:
- Beginne bei dir selbst und ziehe das Mögliche in Betracht.
- Hilf deinem Team, eine Richtung einzuschlagen, ohne ein konkretes Ziel zu kennen.
- Erschaffe Feedback-Kanäle, damit dein Team ständig lernt, was sich ändern könnte und sollte.